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Nino Haratischwili - Europa, wir brauchen dich!



Nino Haratischwili bei der Demonstration im Hintergrund steht georgische Fahne
Nino Haratischwili, Fotoarchiv von GZA


In diesem Beitrag präsentieren wir die Rede von Nino Haratischwili, gehalten bei der Solidaritätsdemonstration am 1. Dezember in Berlin, organisiert vom Georgischen Zentrum im Ausland (GZA). Eine erste Fassung des Textes wurde auf der Webseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) veröffentlicht. (Link)







Europa, wir brauchen dich


Europa, wo fängst du an, und wo endest du? Wo beginnen deine Vorsätze, und wie dehnbar sind deine Grenzen? Wie viel bist du bereit zu geben, um Gleichgesinnte zu schützen, und wo wendest du deinen weitsichtigen Blick doch lieber ab? Wo sprichst du laut, und wo fängt dein Schweigen an, das so vielen Menschen so teuer zu stehen kommt, ohne dass du dir darüber Gedanken machen musst? Denn die Außenränder sind ja deswegen außen und deswegen heißen sie Ränder, damit sie deine gut gemeinten und wohlgesinnten Gedanken schützen, damit du nie wieder Albträume zu haben brauchst, denn die haben längst die anderen.


Wie viel Blut muss fließen, bis du deine Arme schützend um einen legst? Wie lange kannst du dir noch einreden, dass du keine Kriege mehr führst, bis du anerkennst, dass du sie nur ausgelagert hast? Menschen vom Rand, Secondhandmenschen, die stellvertretend streben dürfen: für deine humanistischen Werte, für deine umweltfreundlichen Anregungen, für deine sozialen Ideen, für deine erhabenen Vorhaben, für deine milde Gnade und in Brüssel handgefertigte Menschlichkeit!


Hilfspakete aus Worten


Europa, wie viele Stempel, Unterschriften, Abkommen, Einsprüche, Widersprüche, Änderungen, Entwürfe, Abstimmungen brauchst du noch, um eine Legitimation für Hilfe zu erhalten? Wie viele Länder müssen dein Entgegenkommen absegnen? Und wie lange dauert noch das Warten? Wie viele Hilfspakete, bestehend aus zuversichtlichen Worten und an Hoffnung, vermagst du noch zu schicken, bis alle verhungert sind? Denn Hoffnung allein sättigt leider nicht.


Aber Europa, deine Ränder schmelzen, und die Albträume kriechen über die Schutzmauern. Die Welt zieht eine immer engere Schlinge um dich. Denn die anderen Länder sind nicht so gut erzogen wie du. Während du dich noch an gutbürgerlichen Tischmanieren mit Silberbesteck abarbeitest, isst dein großer, dein unersättlicher Nachbar längst mit den Händen, schmatzt dabei, das Fett und das Blut rinnt ihm das Kinn hinunter, er isst und isst und das Paradoxe dabei: Sein Hunger wird immer größer, je mehr er isst, desto mehr will er haben. Seit Jahrhunderten leidet er an einer Krankheit, die niemand zu heilen vermag, diese Krankheit heißt die Angst vor der Unsichtbarkeit. Du wunderst dich, Europa, wie kann dieser Nachbar, dieser Riese, solche Angst hegen? Wie können ihn solch absurde Zweifel plagen?


Der böse Nachbar


Aber glaub es mir bitte, denn dieser Nachbar lebt bei uns seit fast 250 Jahren, er sitzt mit uns am Tisch, isst unser Essen, legt sich zu uns ins Bett, er nimmt uns weg, was uns gehört, lässt uns immer und immer wieder durch seine Willkür das Blut in den Adern gefrieren, er lässt uns immer und immer wieder gegen sich anrennen, mit dem Kopf gegen ihn schlagen, ihm die Augen auskratzen, mit unseren Messern auf ihn einstechen, die er als bloße Kratzer wahrnimmt, er sieht uns dabei zu und amüsiert sich, dieser masochistische Goliath. Denn wenn er schon nicht geliebt werden kann, dann soll er doch Hass ernten, alles besser, als verkannt zu bleiben. Alles besser als das politisch korrekte Dahinsiechen.


Das, was du für einen guten Ton hältst, Europa, das findet er lächerlich. Alles, was dir erstrebenswert erscheint, das verachtet er. Er lacht dich aus, Europa, und den Preis für dieses sarkastische, alles vernichtende Lachen - zahlen wir, liebes Europa, wir, die dazu verdammt sind, an deinen Rändern, aber am Fuße des Goliaths zu leben. Ich weiß, wovon ich spreche, ich weiß es nicht aus Büchern, ich weiß es nicht aus den Nachrichten, ich und

unzählige Meinesgleichen leben diesen Albtraum immer und immer wieder, als hätte uns jemand mit einem Fluch belegt, dem Fluch des Nie-mehr-Aufwachens.


Dieser Nachbar, liebes Europa, ist nicht nur groß, mächtig, unersättlich und derartig selbstzerstörerisch, dass ihm nichts heilig ist, er ist allen voran auch überall dort, wo du ihn nicht vermutest. Er ist in all den Zwischenräumen deines Nicht-Handelns. An all den Orten deines Blicke-Abwendens, er ist wie Gas, du riechst und siehst ihn nicht, solange er nicht zweckentfremdet eingesetzt wird, aber dann, eine falsche Bewegung, ein kleiner Funke, und es endet tödlich.


Früher, ja, da mag es sein, dass seine Methoden gröber waren, seine Handschrift unbedarfter, aber auch er hat sich modernisiert, auch er hat etwas dazugelernt, denn was die Vernichtung, was den Hass betrifft - in all seiner mannigfaltigen Ausführung - ist er unübertroffen. Er kauft Menschen und ganze Regierungen, er installiert Marionetten, er lenkt und verwaltet, ein geübter Puppenspieler inzwischen, dieser Riese.


Klaffende Wunden, endlose Friedhöfe


1991 und 1992 hast du gerade mit einer weißen Serviette die Mundwinkel abgeputzt und dich noch gewundert, wo diese Landflecke mit den merkwürdigen Namen „Abchasien“ und „Ossetien“ genau liegen, da hatte er bereits seine Zähne in diese Teile hineingebohrt und ließ erst ab, als sie vom Rest abgerissen worden waren: klaffende Wunden, die blieben, endlose Friedhöfe, Ströme an heimatlosen Menschen, die durch die kaukasischen

Gebirgspässe wanderten auf der Suche nach einer neuen Heimat.


1994 hast du dir gerade die Nägel feilen lassen, für irgendein wichtiges Treffen, nehme ich an, ich weiß, du bist sehr beliebt, und alle wollen etwas von dir, ich verstehe schon, dass man da auf seine Erscheinung zu achten hat, dass es einen auch nervt, all die Bittsteller, ich verurteile dich keinesfalls, aber nun ja, damals hörtest du das erste Mal von Tschetschenien, nehme ich an, und schütteltest den Kopf. Aber wo liegt Tschetschenien noch mal? Ist es nicht sehr weit weg? Und als du es 1999 noch einmal hörtest und das dann für zehn Jahre gelegentlich zu hören gezwungen warst, denn dieses kleine Völkchen erwies sich als sehr zäh, ganze zehn Jahre schaffte es es, im zweiten Krieg gegen den Goliath zu bestehen, bis man das Land nahezu vollständig auslöschte, aber da hattest du dir längst deine Meinung zu diesem nebulösen und demnach dubiosen Land gebildet und tatst den zehnjährigen Krieg als eine „interne Angelegenheit“ ab.


Schmutzige Geheimnisse mit Tradition


Als du 2008 Georgien hörtest, etwas blöd, mitten im Sommer, mitten in der Urlaubsstimmung, da musstest du das Land zwar nicht mehr auf der Karte suchen, auch warst du gezwungen, den Urlaub vorzeitig abzubrechen und zu intervenieren, auf deine höfliche, auf deine wohlerzogene Art zu vermitteln, und das recht erfolgreich sogar - dafür danken wir dir, danken dir, danken dir -, aber du hast rückwirkend den Überfall infrage gestellt und gezweifelt, ob wir uns nicht selbst den Krieg eröffnet haben.


2014 störte man deine Ruhe erneut: Diesmal war es die Krim, der Riese war wieder einmal hungrig geworden, und er rückte dir unangenehm nah auf die Pelle mit diesem lästigen Hunger, aber wer blickt da schon durch in diesem slawischen Geschichtswirrwarr mit all den historischen Verflechtungen, territorialen Ansprüchen und nationalen Egos, und somit war es eleganter und selbstredend klüger, sich nicht in Angelegenheiten anderer Leute und allen voran der unzivilisierten Nachbarn einzumischen. (Und tief im Inneren, das wirst du zwar nie zugeben, und das ist in Ordnung so, aber du hast gedacht, dass es ratsamer wäre, diesen Landzipfel dem blutrünstigen Monster zu überlassen, dann wäre es immerhin für einige Jahrzehnte befriedet, hofftest du. Aber genau darin liegt dein Fehler, den du über Jahrhunderte in Bezug auf den Goliath machst: Du hegst die falsche und somit eine fatale Hoffnung, man kann ihn nicht befrieden, egal wie viel Fleisch du ihm zu Füßen wirfst wie einem hungrigen Raubtier. Denn es geht ihm nicht um das Fleisch als solches, sondern um das Rausreißen davon.)


Sich die Ohren zuzuhalten


2022 war es dann nicht mehr möglich, den Blick abzuwenden. Sich die Ohren zuzuhalten. Neutral zu bleiben. Zu sagen, es sei eine interne Angelegenheit, ging nicht mehr. Der Krieg rückte an deine Ränder, er zog die Schlinge um dich zu. Und er klopfte an deine Schläfen. Es war kein Landfleck, den du suchen musstest, es war kein exotisches Land irgendwo im Kaukasus, es war die große, weite, an deine gepflegten Zäune angrenzende Ukraine mitsamt ihren endlosen Weizenfeldern.


Fast drei Jahre später ist der Goliath immer noch im Einsatz, immer noch nicht satt und immer noch nicht befriedet. Die apokalyptische Schönheit der Zerstörung ist zu einem atomaren Kreis geworden, der sich immer und immer mehr weitet, während die Ränder immer weiter schmelzen wie die Eisberge in der Arktis. Europa, wir bluten. Wir können nicht mehr. Wir sind entweder weiterhin ihm Krieg oder wir stehen immer noch auf den Barrikaden und versuchen, mit der letzten Kraft zu verteidigen, was du uns gelehrt hast: Demokratie, Freiheit, Würde und das Leben selbst.


Europa, wir bluten


Während in der Ukraine das Töten weitergeht, beginnt es bei uns in Georgien aufs Neue. Diesmal braucht er keine Armee: Die hat er längst ausgebildet, im Hintergrund, leise, ohne großen Aufwand. Es ist unsere vor zwölf Jahren gewählte und Ende Oktober abgewählte Regierung, die sich aber nicht mehr abwählen lässt und die uns im Namen des Riesen zu paralysieren, mundtot zu machen versucht, zurück in die Knechtschaft führt, die uns mit

Tränengas, mit Platzpatronen, mit Wasserwerfern, mit Schlägen auf den Boden drückt, tiefer, tiefer, bis wir nicht mehr aufstehen.


Europa, wir brauchen dich, um deine Ränder zu verteidigen, die Reste, die noch da sind, wir brauchen dich, damit du weiterhin einen ruhigen Schlaf hast, wir brauchen keine Servietten und kein Silberbesteck, wir brauchen Steinschleudern, Europa, denn uns, den Davids dieser Welt, gehen manchmal auch die Kräfte aus. Und so lass mich wissen, Europa, bitte sag es

uns: Wie viele Opfer brauchst du noch als Beweis unserer Liebe?

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